Wertstromanalysen sind ein mächtiges Werkzeug zur Aufdeckung von Schwachstellen und Verschwendungen in der Prozesslandschaft. Wie bei jeder Analyse kommt es darauf an, wie genau man hinschaut und wie man den Rahmen für eine Wertstromanalyse setzt.
Prinzipiell gibt es drei Arten, um den Rahmen (engl. Scope) für eine Wertstromanalyse zu definieren.
- Prozess: hier werden ein oder mehrere auf einander folgende und klar begrenzte Projektschritte für die Wertstromanalyse definiert, wie z.B. die (manuelle) Endmontage einer elektronischen Baugruppe bestehend aus PCB, Gehäuse, Steckern usw. .
- Fabrik: hier wird der Rahmen der Wertstromanalyse über die ganze Fabrik gespannt. ZU berücksichtigen ist daher der ganze Materialfluss eines Produktes oder Produktgruppe, angefangen vom Rohmaterial bis zum fertiggestellten Produkt. Mit diesem Scope sollte man Wertstromanalysen beginnen, um sich nicht zu sehr in den Details einzelner technischer Prozessschritte zu verlieren.
- Erweiterte Wertstromanalyse: hier werden in die Wertstromanalyse noch weitere Fabriken und insbesondere die Zulieferer und die Endkunden mit einbezogen. Somit ist prinzipiell eine Analyse der kompletten Supply-Chain möglich.
Wie bei jeder Wertstromanalyse ist zu berücksichtigen, dass nicht nur die Warenflüsse mit all ihren Parametern erfasst werden müssen, sondern insbesondere auch die Informationen, die zwischen den einzelnen Prozessen/Fabriken fließen. Dieser Informationsfluss ist maßgeblich für den gesteuerten Warenfluss (und eventuell für die Schwachstellen) verantwortlich. Wie Wertstromanalysen idealerweise durchgeführt werden und welche operativen Mechanismen dahinter stecken, wurde bereits in einem früheren Artikel beschrieben.
Erweiterte Wertstromanalyse und Einfluss der Push-Pull-Grenze
Für die erweiterte Wertstromanalyse und den Einfluss der Push-Pull-Grenze auf den Warenfluss nehmen wir einen Prozess wie weiter unten veranschaulicht an.
Folgende Annahmen werden getroffen:
- Die Fertigung einer komplexen elektronischen Baugruppe erfolgt in einem Vormontageprozess in Fabrik 1. In Fabrik 2, dem Zentralwerk des Unternehmens mit Fertigungsplanung, Zentrallager und Einkauf, erfolgt die Endmontage der Baugruppe. Die Systemintegration und Endtest erfolgt in Fabrik 3 des Unternehmens (oder bei einem externen Systemintegrator).
- Der Kunde des Gesamtproduktes reicht einen langfristigen Forecast in der Fertigungsplanung der Fabrik 2 ein (gezackter Pfeil 1). Gleichzeitig reicht der Kunde eine kurzfristige Planung beim Systemintegrator (Fabrik 3, gezackter Pfeil 2) ein und ruft über dessen Fertigungslager (oder einem Konsignationslager) die fertig getesteten Produkte ab.
- In Fabrik 2 werden die Produkte auf einer einzelnen Fertigungslinie gefertigt. Da es sich bei den Produkten um mehrere Varianten handelt, erfordert der Produktmix und Forecast jedoch ein mehrfaches Umrüsten der Fertigungslinie in Fabrik 2 (gezackter Pfeil 3). Das Umrüsten dient insbesondere dazu, den Bestand an Fertigprodukten und vormontierten Produkten im Lager der Fabrik 2 möglichst gering zu halten. Zudem werden durch regelmäßige Neuplanungen der Fertigung kurzfristige Bedarfsschwankungen im Produktmix der Fabrik 3 ausgeglichen. Die Neuplanungen in Fabrik 2 ziehen zudem unmittelbar eine Neuplanung der Fertigung der Halbwaren aus Fabrik 1 nach sich (gezackter Pfeil 4).
- Der Systemintegrator (Fabrik 3) fertigt nun seinerseits einen eigenen Produktmix, dies sogar für mehrere Endkunden, so dass er ebenfalls versucht flexible auf die Bedarfe des Kunden zu regieren.
Diese Annahmen hören sich zunächst recht komplex an, sind aber durchaus im realen Leben anzutreffen, insbesondere wenn aufgrund der Globalisierung die Fabriken 1-3 über mehrere Länder oder sogar Kontinente verstreut sind.
Was nun passiert:
- Fabrik 3 reagiert flexibel auf schwankende Kundenbedarfe und richtet gleichzeitig seine Fertigungsplanung optimal auf seinen eigenen Produktmix aus. Dies führt des Öfteren zu einer moderaten Überproduktion um Lagerpuffer gegenüber dem Kunden aufzufüllen oder um „Luft“ für die Fertigung anderer Produkte der eigenen, anderen Kunden zu gewinnen.
- Die temporären Überproduktionen von Fabrik 3 werden ungefiltert als weitere Bedarfe an die Fabrikplanung der Fabrik 2 weitergegeben. Mehrfache Umplanungen pro Woche der Fertigung in Fabrik 2 treffen genauso und aufgrund mangelnder Puffer noch härter die Fabrik 1.
- Läuft die Produktion in den Fabriken 2 und 3 noch annähernd durch ein Kanban-Prinzip über z.B. Konsignationslager, so fertigt Fabrik 1 völlig unabhängig der Wünsche des Kunden im Auftrag von Fabrik 2 über direkte Aufträge und daher im Push-Betrieb. Die Push-Pull-Grenze läuft daher mitten durch die Fabrik 2, zwischen Halbwaren-Eingang und Fertigprodukt-Ausgang.
Die beschriebene Situation hat nun dramatische Folgen für die ganze beschrieben Lieferkette:
- Drastisch erhöhter und oftmaliger Neuplanungsaufwand in den Fabriken 1 und 2.
- Oftmalige Über- und Unterbestände in den Konsignationslagern und damit erhöhter Kommunikationsbedarf mit Fabrik 3, ggf. verbunden mit Zahlungen für Vertragsverletzungen über Pufferlager.
- Hohe Kosten für Sondertransporte zwischen den Fabriken 1 und 2 sowie zwischen den Fabriken 2 und 3.
- Hohe Kosten für oftmaliges Umrüsten in den Fabriken 1 und 2.
- Überlastetes und unzufriedenes Personal in den Fabriken 1 und 3.
Eine detaillierte Analyse des erweiterten Wertstroms würde nun folgende Ergebnisse liefern:
- Der Kunde gibt die Taktzeit vor! Zwar schwanken die Bedarfe des Kunden von Tag zu Tag und über den Produktmix, jedoch würde eine Mittelwertbildung über z.B. eine Woche (oder einen Monat) nahezu konstante Bedarfe ergeben.
- Würde Fabrik 2 im Laufe der Zeit einen eigenen Puffer aufbauen, um die Schwankungen aus Fabrik 3 im Wochenmittel abzufangen, bräuchte Fabrik 2 auf die schwankenden Produktabflüsse durch Fabrik 3 nur noch in seltenen Fällen reagieren. Eine konstante Fertigung ohne Neuplanungen unter der Woche wäre für Fabrik 2 möglich.
- Fabrik 1 fertigt die Halbware von geringem Wert. Somit könnte Fabrik 1 gemäß der nahezu konstanten mittleren Taktzeit des Kunden ein entsprechendes Pufferlager für Fabrik 2 aufbauen und eine sehr konstante Fertigung mit wenigen Umrüstungen fahren. Damit wäre Fabrik 1 völlig unabhängig von den Bedarfen in Fabrik 2 und 3. Nur der Kunde zählt.
Es erhebt sich die Frage, warum das nicht gleich so vonstatten gegangen ist. Nun, jede Fabrik hatte jeweils nur den Blick für den nächsten Nachbarn und damit den Blick auf die eigentlichen, im Mittel recht konstanten Bedarfe des Kunden verloren. Eine erweiterte Wertstromanalyse schafft hier Klarheit und war ein mächtiges Werkzeug zur Aufdeckung und Lösung dieses Problems. Hinzu kam ein völlig verschiedenes Verständnis über die Begriffe „Kundenbedarfe“ und „Taktzeit“ in den verschieden Fabriken.
Dieses Szenario wurde an ein reales Szenario angelehnt. Ähnliche Szenarien lassen sich oft in den unterschiedlichsten Branchen beobachten. Wertstromanalysen decken die Schwachstellen auf und zeigen den Weg zur Abhilfe.
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